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Über Blutungsneigungen
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Hämophilie:
Definition
Unter Hämophilie versteht man eine erbliche Blutungsneigung, die durch einen Mangel an FVIII (Hämophilie A) oder FIX (Hämophilie B) verursacht ist. Anhand der Restfunktion von FVIII oder FIX wird eine schwere (Restaktivität <1%), mittelschwere (Restaktivität 2–5%) und milde (Restaktivität >5%) Hämophilie unterschieden mit entsprechend unterschiedlichem klinischem Verlauf.
Genetik
Hämophilie A und B werden X‑chromosomal rezessiv vererbt. Das F8 Gen ist auf Chromosom Xq28 lokalisiert und umfasst 186kb mit 26 Exonen (OMIM database No. 306700). Das F9 Gen liegt auf Chromosom Xq27.1–27.2 (OMIM database No. 306900). Eine Mutter, die die Mutation auf einem X‑Allel trägt, wird dieses zu 50% an ihre Nachkommen weitergeben. Dies bedeutet, dass 50% der Söhne das mutierte Allel erhalten und an einer Hämophilie leiden werden und 50% der Töchter als Überträgerinnen das Allel an ihre eigenen Nachkommen weitergeben können. Rund ein Drittel der Fälle mit Hämophilie A entsteht aus spontanen Neumutationen des F8 Gens. Eine molekulargenetische Diagnostik des F8 Gens ist verfügbar und kann in den meisten Fällen die zugehörige Genmutation identifizieren, die zum Faktormangel führt. Damit ist eine Abklärung der Überträgerinnen und eine pränatale Testung des Risikos innerhalb einer Familie möglich. Es sind unterschiedliche Mutationen beschrieben, die nicht alle zum vollständigen Funktionsverlust des Proteins führen. Die häufigste Mutation, die in fast der Hälfte der Familien mit schwerer Hämophilie A gefunden wird, ist eine Inversion des Introns 22 mit in Folge vollständigem Fehlen von FVIII. Eine Inversion von Intron 1 liegt in ca. 3% der schweren Hämophilie A vor. Bei den anderen Mutationen handelt es sich zur Hälfte um grosse Gen-Alterationen, das heisst grosse Deletionen oder Insertionen, Leserahmen- oder Spleissstellen-Veränderungen. Milde Hämophilie A wird eher durch Missens-Mutationen in Exonen der A oder C Domänen verursacht. In der frei zugänglichen HAMSTeRS-Datenbank, kurz für Haemophilia A Mutation, Structure, Test and Resource Site (http://hadb.org.uk/) sind die bisher beschriebenen Mutationen für die Hämophilie A zusammengestellt. Aus Italien wurde 2008 die AICE-Genetics hemophilia database veröffentlicht, die in 90% der Patienten mit Hämophilie A verantwortliche Mutationen nachweisen konnte. Die Korrelation von Genotyp zu Phänotyp kann Auskunft geben über den zu erwartenden klinischen Verlauf, insbesondere die Schwere der Hämophilie und das Risiko für die Entstehung von Hemmkörpern. So prädestiniert z.B. eine Mutation, die zu einem Null-Allel führt zur Entwicklung von Hemmkörpern in bis zu 60% der Fälle, im Gegensatz zu Missens-Mutationen mit einer Hemmkörper Rate von ca. 5%.
Inzidenz
Die Hämophilie A betrifft weltweit 1:5’000 lebendgeborene Knaben. Es besteht kein Unterschied zwischen Ländern und Rassen, vermutlich aufgrund der hohen Spontanmutationsrate und der X‑chromosomalen Vererbung. Die Hämophilie B ist wesentlich seltener mit einer Inzidenz von 1:30’000 Knaben.
Klinik
Die Gerinnungsfaktoren FVIII und FIX sind wesentliche Bestandteile der plasmatischen Gerinnungskaskade und spielen in der sekundären Hämostase eine bedeutende Rolle. Entsprechend ist das klinische Bild der Blutungsneigung geprägt durch Hämatomneigung, verlängertes, erneutes Nachbluten nach Bagatell-Verletzungen, nach Zahnextraktionen oder Operationen.
Kinder mit schwerer Hämophilie A oder B fallen ab dem Krabbelalter auf mit grossen, teils indurierten Hämatomen an exponierten Körperstellen, aber auch an ungewöhnlichen, nicht-exponierten Körperstellen. Nicht selten wird in den Abklärungen differenzialdiagnostisch an eine Kindsmisshandlung gedacht. Seltener werden Hirnblutungen gesehen, teils bereits neonatal, welche auch die Haupt-Todesursache für Hämophile darstellen. Typisch sind lange Nachblutungen nach Circumzision von Säuglingen. Schwere Hämophile präsentieren sich ab Beginn des Laufalters mit Gelenkhämatomen (vorzugsweise Knie, Hüfte), die durch Hinken oder Schonen einer Extremität bemerkt werden. Ohne die entsprechende Substitution des fehlenden Gerinnungsfaktors sind 20–30 Blutungsepisoden pro Jahr zu erwarten. Der Verlauf der schweren Hämophilie ist gekennzeichnet durch spontane Blutungen in Gelenke und Muskulatur. Wiederholte Einblutungen in Gelenke führen zur Hämophilie-Arthropathie, vor allem der grossen Gelenke. Die Lebenserwartung insgesamt ist ohne Faktortherapie deutlich reduziert. In den Entwicklungsländern erreichen auch heute oft noch die Betroffenen das Erwachsenenalter nicht. Durch Optimierung der Faktortherapie und Patientenschulung sowie durch Reduktion des Infektionsrisikos mit der Entwicklung rekombinanter Präparate konnte die Lebenserwartung in den letzten Jahrzehnten in den Industrienationen erheblich gesteigert werden und liegt momentan bei über 60 Jahren. Langfristiges Ziel der Therapie ist es, die folgenschwere und häufig invalidisierende Hämophilie-Arthropathie zu verhindern oder zu minimieren. Dazu ist ein interdisziplinärer Zugang mit Physiotherapeuten und Orthopäden erforderlich.
Bei mittelschwerer und milder Hämophilie liegt das mittlere Manifestationsalter später bei 5–6 Jahren. Die Kinder bluten verlängert nach kleineren Verletzungen. Teilweise wird die Diagnose erst im Zusammenhang mit einer Nachblutung nach Operation – hierbei wiederum typisch Circumzision oder Adenotomie / Tonsillektomie – oder nach Unfällen, z.B. Schädel-Hirn Trauma mit ungewöhnlich starker Blutung, gestellt. Zu spontanen Blutungen kommt es bei milder Hämophilie selten. Die Blutungshäufigkeit variiert zwischen 1x pro Jahr bis zu 1x in 10 Jahren. Generell werden im Kindesalter häufiger Blutungen beobachtet als im Erwachsenenalter, was mit dem Bewegungsmuster und der sonstigen erhöhten Vulnerabilität eines wachsenden Organismus zu tun haben mag.
Diagnostik
In den Routinetests bei Abklärung einer Blutungsneigung sind Plättchenzahl, in vitro Blutungszeit (PFA-100), Thrombinzeit und Fibrinogen normal. Hinweis auf das Vorliegen einer Hämophilie A oder B gibt die verlängerte aktivierte Prothrombin-Zeit (aPTT), welche jedoch bei milder Hämophilie normal ausfallen kann. Die spezifische Faktorbestimmung von FVIII oder FIX in Anwesenheit eines normal hohen vWF sichert die Diagnose. Bei grenzwertiger Aktivität von FVIII von 40–80% im „one-stage“ Test kann ein „two-stage“ Test oder chromogener Test die erniedrigte Faktoraktivität beweisen. Im „one-stage“ Verfahren werden verschiedene Reagenzien verwendet mit unterschiedlichem Faktormangel-Plasma und unterschiedlichen Referenz-Plasma Proben. Der chromogene Testansatz beruht auf ähnlichem Prinzip wie der „two-stage“ Test und beinhaltet eine längere Präinkubationszeit. Einige Mutationen des F8-Gens führen zu einem falsch hohen Resultat beim „one-stage“ Test, so dass die Diagnose zuverlässig letztlich nur im „two-stage“ Test gestellt werden kann. Bei Überträgerinnen der Hämophilie A wird in ca. 10% eine reduzierte Aktivität von FVIII unter 35% gefunden. Dabei gilt zu bedenken, dass die FVIII-Aktivität durch Schwangerschaft, orale Antikonzeption, Sport oder chronische Entzündung erhöht sein kann und die FVIII-Aktivität bei Menschen mit Blutgruppe 0 ca. 25% tiefer liegt.
Literatur:
(wird noch ergänzt)